Dienstag, 25. Oktober 2011

(M)Ein ganz normaler Tag in Deutschland

Heute ein Gastartikel meiner muslimischen deutsch-chinesischen Freundin Mareike. Wenn er euch gefällt, dann verlinkt bitte fleißig.

Ich wache auf, ich sehe den wunderbar strahlenden Himmel draußen, ich rieche die leckeren Pfannkuchen, die mein lieber Ehemann mir immer zum Frühstück zaubert, ich komme mit bester Laune aus dem Bett – das scheint heute ein guter Tag zu werden!
Ich freue mich schon darauf, rauszukommen, die Sonne zu genießen, meine Freunde in der Uni wiederzusehen, kurz: Meine Stimmung ist blendend – wie das Wetter draußen, wird wohl wieder ein heißer Sommertag.
Ich schnappe mir Kleidung in meinen Lieblingsfarben aus dem Schrank und setze ein dazu passendes Kopftuch auf ... womit der Tag dann eigentlich so gut wie gelaufen ist...

Mit dem Vorsatz, heute stark zu sein, mich heute nicht von irgendwelchen Sprüchen runterziehen zu lassen, verlasse ich die Wohnung und bete, dass es ein schöner Tag wird.
Kaum bin ich im Treppenhaus, werde ich Zeuge davon, wie Frau Nachbarin die kleine dreijährige Tochter des kurdischen Ehepaars von nebenan die Stufen runterkickt. Wie einen Fußball. Ich renne hinzu, sehe, dass es dem Mädchen gut geht und wende mich der alten Dame zu, die schon so alt und gebrechlich aussieht, dass man überrascht ist, wie sie die Kraft überhaupt dazu aufbringen konnte. Doch mein Protest geht in wildem Geschrei unter, dass ich hier nichts zu sagen habe, ich bin ja schließlich nicht in meinem Heimatland. Ich habe hier nicht das Recht, meinen Mund überhaupt zu öffnen und wenn ich jetzt nicht verschwinde, rufe sie die Polizei. Ja, immer die Polizei, die dann auch immer auf ihrer Seite ist. Letztens wollte sie die Polizei rufen, als ich meinen Briefkasten öffnete. – „Ja, ja, machen Sie ruhig weiter so, ich hab Sie schon gemeldet!“ – Mein verdutztes „Aber ich hole doch nur meine Post“ hat sie in ihrem „Schmutzige Ausländer“-Gezeter wohl gar nicht mehr so recht mitbekommen.

Nun ja, das war nicht so ganz der erwartete Einstieg in den Tag (für das kleine Mädchen sicher auch nicht), aber der Tag hat ja gerade erst angefangen.
Zuversichtlich steige ich in den Bus und setze mich auf einen der vielen freien Plätze. – „Aufstehen!“ Ich sage verwirrt: „Warum?“ - „Auch noch Fragen stellen hier, oder was? Hör mir mal zu, ja? Noch bin ich hier im eigenen Land, okay? Und du bist hier nicht zu Hause, hier musst du dich an unsere Gesetze halten!“ Ich sehe mich um. Wahnsinn, keiner der anderen Fahrgäste verteidigt mich. Sie zücken alle ihre iPods und iPhones und sind offensichtlich ganz vertieft in ihre Musik und die, die solche Geräte nicht haben sehen alle hinaus in den Himmel, als ob sie noch nie die Sonne gesehen hätten.
Ich weiß, ich bin eine dumme feige Kuh, aber ich habe keine Lust auf eine nervenaufreibende Diskussion und begebe mich auf einen anderen Sitzplatz. Sowie ich dort Platz genommen habe, stehen jene, die sich unmittelbar neben mir befinden, abrupt auf und flüchten in den hinteren Teil des Wagens. Woran das wohl liegt? Den Blicken nach zu schließen höchstwahrscheinlich an dem Päckchen, was ich mit mir trage. Dass ich damit nur zur Post will, kommt wohl keinem in den Sinn. Und überhaupt – wäre da eine Bombe drin, wären sie auch ganz hinten im Bus nicht sicher!

Nachdenklich sitze ich nun in der S-Bahn und beobachte die Polizisten, welche soeben Ausweiskontrolle bei den Fahrgästen durchführen – also bei den Fahrgästen mit dunkler Hautfarbe und Vollbart...

Und schwupps – sie haben einen. Einen nehmen sie immer mit. Der Arme, der hat wahrscheinlich nur nicht daran gedacht, dass man hier noch nicht mal den Müll rausschaffen dürfte, ohne sämtliche
Papiere bei sich zu tragen. Seine Erklärungen in einwandfreiem Deutsch werden überhört. Die Beamten bemühen sich nämlich gerade, ihm in einer extremen Lautstärke mit absichtlich gebrochenem Deutsch und merkwürdig verformten Halbsätzen zu verdeutlichen, was hier los ist:
„Du – hier – in DEUUUUUTSCH-LAAND – sein! Hier – unsere – Gesetze! Du – nicht – in – Heimat!“
– Da ist es schon wieder: Heimat. Immer dieses Wort. Ständig. Ich kriege das am laufenden Band zu hören. Was ist das denn für eine Argumentation? Bin ich kein vollwertiger Mensch, nur weil man meint, meine „Heimat“ wäre sonstwo außerhalb?

Außerdem - was soll ich dazu sagen? Vater deutsch, Mutter chinesisch. Und selbst weder ganz das eine noch das andere. Hier gehöre ich nicht dazu, aber bei den Chinesen irgendwie auch nicht so recht. Denn ich kenne sie nicht. Ich war ein einziges Mal in China als kleines fünfjähriges Mädchen. Kaum noch Erinnerung daran. Keine Ahnung vom Land, von den Leuten, von der Kultur. Ich spreche nicht mal die Sprache. Kontakt zur Familie so gut wie gar nicht. Und so soll sie also aussehen? Meine Heimat? Das, wohin ich (so wie ich es oft zu hören bekomme) wieder zurückkehren soll? Ein Land, was ich nicht kenne, dessen Sprache ich nicht verstehe?
Ich bin hier geboren und aufgewachsen, habe hier die Schule besucht und nun die Uni. Ich kenne nichts anderes. Hier lebe ich. Können sie das nicht einfach akzeptieren? Nein, können sie nicht. Und deswegen lebe ich schon immer in der Schwebe. Zwischen zwei Welten. Zwei Kulturen. Und keine will mich so recht aufnehmen. Nirgendwo passe ich richtig rein. Ich bin irgendwo dazwischen. Und das ist schwer. Keinen richtigen Platz zu haben. Warum Mama hergekommen ist und warum sie bleiben wollte, keine Ahnung. Aber ich bin hier geboren. Das konnte ich mir nicht aussuchen. Ich hab hier das Licht der Welt erblickt und kenne auch nichts anderes. Hier habe ich mein Leben verbracht. Und jetzt soll ich hier wieder weg? Nur weil ich anders aussehe? Weil mein Familienname ein bisschen anders klingt? Weil ich zu meiner Jeans und dem H&M-Kleid ein Kopftuch trage?

Mittlerweile habe ich es bis zur Poststation geschafft. Ich verlasse die S-Bahn und bleib kurz am Bahnsteig stehen, um mich zu orientieren. Welche Richtung war nochmal die Post? Ich lege mein Paket ab, geh ein paar Schritte bis zur Anzeigentafel und studiere den dort ausgehängten Stadtplan. - „Gleis 3, wiederhole, Gleis 3, bitte kommen!“ - Ein Polizeibeamter hat wohl irgendwas auf Gleis 3 entdeckt! Was das wohl ist? Interessiert sehe ich mich um – o nein – die stehen um mein Päckchen herum! ...

Endlich geschafft. Ich habe mich mehrmals bei den Beamten entschuldigt und hätte fast 200 EUR für diesen „Einsatz“ zahlen müssen – pfff! - Die stehen doch sowieso den ganzen Tag am Bahnhof herum!
Und nach einer ziemlich aggressiven Frage der Postbeamtin nach dem Inhalt des Päckchens habe ich es auch endlich geschafft und bin bei der Uni angekommen. - Vielleicht wird dieser Teil des Tages ja besser...

Uni-Tag erfolgreich geschafft und wieder viel Neues gelernt. Zum Beispiel, dass die Uni-Bibliothek nur drei Etagen hat, nicht vier. Obwohl man mir sagte, der Gebetsraum für muslimische Studenten befindet sich in der vierten Etage.

Ich stehe nun auf dem Unigelände und warte auf meinen Mann. Er hat heute früher Feierabend und da wollte er mir die Freude machen, mich abzuholen. Ich freue mich, ihn gleich zu sehen.
Ungeduldig sehe ich auf die Uhr. Ich sehe immer wieder auf die Uhr. Er ist sonst ein pünktlicher Mensch. Mit der Zeit mache ich mir Sorgen, da er auch nicht telefonisch zu erreichen ist, wobei er so einen penetranten Klingelton hat, dass er so gut wie nie einen Anruf verpasst.
Nach drei Stunden bekomme ich einen Anruf: „Salamu alaikum mein Schatz. Ich komme gerade aus der Polizeistation...“
Na toll, was denn jetzt schon wieder! Wobei, ich hätte es mir denken können – es hat doch gerade ein neuer Monat angefangen. Muss ja mal wieder was kommen. Das letzte ist nun schon vier Wochen
her.

Sie haben ihn immer wegen irgendwas. Sie fangen ihn immer am Bahnhof ab und nehmen ihn immer wegen was andrem mit aufs Revier. Widerstand wäre da zwecklos. Sie sagten ihm, wenn er den Mund aufmacht, schlagen sie ihn. Ist zum Glück noch nie passiert. Tja, und dann sitzt er da sinnlos drei Stunden auf dem Revier, verpasst sämtliche Termine, kriegt nicht mal das Recht, auf die Toilette zu gehen oder etwas zu essen. Die Beamten schlürfen derweil ihren Kaffee, beleidigen ihn, um dann im Anschluss zu sagen: „Entschuldigung, wir hatten eine falsche Information zugespielt bekommen. Sie waren gar nicht gemeint. Es tut uns sehr leid. Sie dürfen jetzt gehen.“

Jedes Mal dasselbe. Sinnlose Zeitverschwendung und Nerven kostet es sicher auch. Mein armer Schatz, er tut mir so leid! Ich frage mich nur, warum immer? Was ist an ihm so interessant? Er ist ein einfacher tunesischer Mann, der hier Pharmazie studiert und nebenbei als Arabischlehrer tätig ist. Manchmal hält er auch Vorträge in Moscheen. Dann sind da manchmal eine Menge Leute, die konvertieren wollen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie immer wieder versuchen, ihn wegen irgendetwas dranzukriegen. Er redet denen einfach zu viel und zu überzeugend.
Bis jetzt war schon alles mögliche dabei: Diebstahl, Körperverletzung, Schwarzfahren, ungültiger Aufenthaltsstatus und natürlich der absolute Renner: Verdacht auf terroristische Aktivität. Und immer wieder kriegt er nach stundenlanger Demütigung ein „Entschuldigung, wir hatten nur eine falsche Information bekommen. Sie waren gar nicht gemeint. Sie dürfen gehen.“
Na? Da hat man doch irgendwann keine Lust mehr drauf, oder? Wenn man sich dann tatsächlich einen Sprengstoffgürtel umbinden würde, würde man mal etwas tun, was alle erwarten!

Mein Mann hat sich da jetzt mal beschwert. Was kann er gegen diese Behandlung tun? Sie meinten, er könne die Polizei verklagen. - Die Polizei verklagen? Na klar. Und nebenbei noch einen Riesenscheck an einen Anwalt übergeben. Und Namen hat er auch nicht. Er weiß nicht, welche Beamten das waren. Im Gegensatz zu ihm wollen die sich nämlich nie ausweisen.
Einer sagte noch: „Naja, Sie könnten sowas umgehen, indem Sie sich nicht so oft auf Bahnhöfen aufhalten würden.“ - Versuch das mal einer! In Köln einem Bahnhof aus dem Weg gehen! - Die S-Bahn hier ist das effektivste Verkehrsmittel, um durch die Stadt zu kommen! Es geht gar nicht anders, als mehrmals täglich einen Bahnhof aufzusuchen!

Da kommt mein Mann endlich! Der Arme, er tut mir so leid. Routinemäßig frage ich ihn: „Und, was war es diesmal?“ - „Vorwurf des Kindermissbrauchs.“ - WAAAAAAAAAAS?! Oh mein Gott! Die wollten ihm ja schon alles mögliche anhängen, auch glauben sie, dass er ständig mit 'ner Bombe herumläuft, aber das? Oh mein Gott, das übertrifft ja alles! Das ist ja das Letzte! Wie können sie nur?
„Und was haben sie dann zu dir gesagt?“ - „Es tut uns leid, dass wir sie hier aufgehalten haben, wir hatten nur eine Falschinformation.“
Was haben die nur davon, frage ich mich!

Nun gut, jetzt nicht mehr davon reden, wir haben noch ein paar wichtige Termine: Behördengänge.

Ich mache mich schonmal drauf gefasst, ignoriert zu werden. Das ist wirklich lustig. Überall werde ich angestarrt und doof angemacht, aber sowie ich eine Behörde betrete, bin ich wie Luft. Dann reden sie nur noch mit meinem Mann, auch wenn er sie immer wieder darauf hinweist, dass ich sehr wohl der deutschen Sprache mächtig bin.
„Wie heißt Ihre Frau? Wie alt ist Ihre Frau? Was möchte Ihre Frau?“ Manchmal mache ich mir den Spaß und antworte entweder in übelstem Dialekt (Sächsisch bevorzuge ich) oder in völlig überzogener Fachsprache in möglichst kompliziertestem Satzbau. In deren Gesichtern erkennt man dann immer eine Art Fassungslosigkeit. - Was sie nicht daran hindert, mich noch immer nicht für voll zu nehmen.

Einige Fragen beantworten sie auch einfach so und tippen etwas in ihre Computer, ohne mich vorher zu fragen, hier nur ein paar Beispiele:
„Staatsangehörigkeit: Sonstige“ - Nein, ich hab einen deutschen Pass.
„Ach so ... Status: Eingebürgert“ - Nein, erworben durch Geburt. Mein Vater ist deutsch.
„Ach...?“ (Hochgezogene Augenbrauen)
„Anzahl Kinder...“ - Keine.
„Nein, ich meine, wie viele Kinder Sie haben!“ - KEINE!
„Beruf: Hausfrau“ - Nein, ich bin Studentin!
„Ach...?“ (Augenbrauen verschwinden fast völlig unter dem Haaransatz)

Irgendwann ist dann auch dieser Tag geschafft.
Wir sind auf dem Heimweg. Im Bus lasse ich meine Kapuze gleich auf. Ich habe für heute keine Energie mehr, den Leuten immer wieder ihre dummen Fragen bezüglich meines Kopftuches zu beantworten:
„Nein, mir ist nicht wärmer als Ihnen. Nein, mein Mann zwingt mich nicht dazu. Nein, mein Vater auch nicht. Brüder? Hab ich keine. Nein, ich wurde noch nie geschlagen. Nein, meinen Mann habe
ich aus Liebe geheiratet. Nein, zu Hause trage ich kein Kopftuch. Nein, ich bin keine Türkin. Bla-Bla-Bla.“

Den nächsten Bus haben wir verpasst. Also eigentlich nicht verpasst. Wir standen an der Station. Der Busfahrer sieht uns an und – fährt vorbei.
Als wir endlich im nächsten Bus sitzen, lassen wir jeder für sich den Tag Revue passieren. Mein Mann schäumt vor Wut. Ich dagegen habe gar keine Kraft mehr für Wut. Ich fühle mich einfach nur sehr traurig und enttäuscht und – allein. Ja, das trifft es. Allein. Mir laufen die Tränen runter, während mein Mann sich neben mir lauthals über Deutschland beschwert.

Ein Mann kommt zu uns und kommentiert:
„Wenn es Ihnen hier nicht passt, warum bleiben Sie dann noch hier?!“

Ja, das frage ich mich auch.

„Gehen Sie doch nach Hause!!!“

Hmm, wenn ich nur wüsste, wo das ist – mein zu Hause...

Edit 10.12.2011, Zweisatz: Ihr Tagebuch

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